Gesundheitsminister sagt, Corona-Massnahmen seien übertrieben gewesen

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LockdownGesundheitsminister sagt, dass Corona-Massnahmen übertrieben gewesen seien

Rückblickend würde Deutschlands Gesundheitsminister Jens Spahn die Läden nicht mehr schliessen. Auch in der Schweiz wird der Nutzen des Lockdown nun infrage gestellt.

Darum gehts

  • Jens Spahn tritt die Debatte los, ob der Lockdown rückblickend falsch war.
  • Für einen ETH-Professor ist klar: «Regierung und Bevölkerung wurden zu sehr von der Panik regiert.»
  • Infektiologe Pietro Vernazza findet hingegen: «Im Nachhinein ist es einfach, Kritik zu üben.»

An einem Wahlkampfauftritt in Bottrop gab sich der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn kürzlich selbstkritisch: Rückblickend seien einige Corona-Verbote zu drastisch gewesen. Wörtlich sagte er: «Man würde mit dem Wissen von heute keine Friseure mehr schliessen und keinen Einzelhandel mehr schliessen. Das wird nicht noch einmal passieren. Wir werden nicht noch einmal Besuchsverbote in den Pflegeeinrichtungen brauchen.»

Man habe gelernt, wie man sich auch ohne diese Massnahmen schützen könne. «Dafür braucht es zum Beispiel die Maske.»

«Das Geständnis ist willkommen»

Auch in der Schweiz mehren sich die Stimmen, die den Lockdown kritisch sehen. «Dem Bundesrat würde es gut anstehen, den damaligen Entscheid kritisch zu analysieren», sagt etwa ETH-Professor Didier Sornette. Er gratuliere Jens Spahn, dass er Fehler eingestanden habe. «Das Geständnis ist willkommen, auch wenn es etwas spät kommt.»

Sornette kritisierte gewisse Corona-Massnahmen scharf: «Regierung und Bevölkerung wurden zu sehr von der Panik regiert – das Resultat waren halbgare Massnahmen. Der Lockdown mit der Schliessung aller Läden, Restaurants und Schulen war irrational.» Diese Massnahme lohne sich höchstens, wenn sie ganz früh getroffen werde. «Für einen Lockdown war es aber viel zu spät.»

Sornette betont, dass das nicht heisst, dass man nichts hätte tun sollen. «Wir hätten die Risikogruppen schützen und dem Pandemieplan folgen sollen.» Moderate Massnahmen, wie sie heute gelten, hätten dann gereicht. Diese Einsicht sei auch in der Politik gereift: «Ein neuerlicher Lockdown ist nur schon aus wirtschaftlicher Sicht unvorstellbar – selbst wenn die Corona-Infektionen wieder ansteigen.»

GPK arbeitet Corona-Entscheid auf

Derzeit nimmt die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Nationalrates die Corona-Politik des Bundesrates unter die Lupe. FDP-Nationalrat Matthias Jauslin ist Mitglied der GPK. Für ihn ist klar: «Einige Corona-Massnahmen waren übertrieben. Kleine Geschäfte mussten dichtmachen, durften nicht einmal einen Strassenverkauf betreiben, ohne gebüsst zu werden.» Auch die Schliessung von Coiffeuren oder in einigen Kantonen der Baustellen sei übertrieben gewesen.

«Ich war von Anfang an skeptisch und habe ein bisschen nach Schweden geschielt», sagt Jauslin. Er habe Verständnis, dass der Bundesrat kein Risiko eingehen wollte. Aber: «Wir neigen in der Schweiz zur Übervorsicht.»

«Massgeblich sind die vorliegenden Fakten»

Einer der ersten Kantone, die die Notlage ausriefen und die Läden noch vor dem nationalen Lockdown schlossen, war Basel-Landschaft. Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Thomas Weber (SVP) verteidigt die damalige Politik: «Massgeblich sind im Moment eines Entscheides die Fakten, die zu diesem Zeitpunkt vorliegen. Die Zahl der Neuansteckungen und Hospitalisierungen stieg Anfang März exponentiell an und eine Überlastung des Gesundheitssystems drohte. Die getroffenen Massnahmen waren angezeigt.» Aus der damaligen Sicht und mit dem vorhandenen Wissen seien die Massnahmen nötig und richtig gewesen. «Mit mehr Wissen über das Virus werden künftig weniger einschneidende Massnahmen erforderlich sein.»

Bundesrat Alain Berset sagte an der Pressekonferenz vom Mittwoch, man habe immer versucht, verhältnismässige Massnahmen zu treffen. Das tue man auch jetzt wieder, indem man die Stadien früher als andere öffne.

3 Fragen an Pietro Vernazza

«Gefährlichkeit der Krankheit möglicherweise überschätzt»

Laut Pietro Vernazza, Infektiologe und Chefarzt am Kantonsspital St. Gallen, musste der Bundesrat im März handeln.

Herr Vernazza, war der Lockdown übertrieben?

Im Nachhinein ist es einfach, Kritik zu üben. Wir hatten im März eine Situation, da war der Lockdown notwendig. Wir müssen aber in die Zukunft schauen und die neuen Erkenntnisse richtig gewichten. Heute haben wir viel mehr Wissen.

Die Fallzahlen steigen auch in der Schweiz wieder. Wird die Politik angemessen reagieren?

Wir wollen jetzt möglichst jede Erkrankung diagnostizieren. Die aktuellen Zahlen sind darum nicht mehr mit der ersten Welle zu vergleichen: Wir diagnostizieren jetzt milde Fälle, die früher unentdeckt blieben. Das führt zu einer Überschätzung der Problematik. Sicher sind die Todesfälle nicht im gleichen Mass angestiegen. Ich bin darum zuversichtlich, dass so schwere Massnahmen wie im März nicht mehr notwendig werden.

Hat sich das Virus auch abgeschwächt?

Das ist möglich. Wir sehen in ganz Europa mildere Verläufe. Anfänglich haben wir die Gefährlichkeit der Krankheit möglicherweise wie bei der Schweinegrippe überschätzt. Ein Grund könnte sein, dass Abwehrzellen eine wichtigere Rolle spielen als bisher vermutet. Möglich, dass die Schutzfunktion von Abwehrzellen gegen andere Coronaviren – eine sogenannte Kreuzimmunität – bisher unterschätzt wurde. Wir müssen aufmerksam bleiben, sollten aber keine Angst vor Covid-19 haben. Es ist eine Infektionskrankheit wie andere auch.

Pietro Vernazza.

Pietro Vernazza.

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