Von der Flüchtlingswelle gestreift

Das Schweizer Asylwesen ist nahe an der Kapazitätsgrenze. Unbegleitete Minderjährige, lokaler Widerstand und Eritrea gehören zu den grossen Herausforderungen. Das Jahr 2015 zeigte, dass Prognosen zu Migrationsbewegungen Glücksache sind.

Simon Gemperli
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Der Kanton Aargau bringt Asylbewerber in Selbstbauhütten der Ikea-Stiftung unter. (Bild: Keystone)

Der Kanton Aargau bringt Asylbewerber in Selbstbauhütten der Ikea-Stiftung unter. (Bild: Keystone)

Rund 35'000 Asylbewerber stellten 2015 in der Schweiz ein Gesuch. Erwartet hatte das Staatssekretariat für Migration ursprünglich 29'000. Im Herbst verzeichnete die Schweiz wegen des rapide gestiegenen Zustroms via Griechenland bis zu 4500 Gesuche pro Monat. Extrapoliert man die Zahlen der letzten Monate aufs kommende Jahr, sind das rund 50'000 Gesuche. Für Peter Gomm, Präsident der kantonalen Sozialdirektoren, wäre man bei einer solchen Entwicklung bald einmal an der Kapazitätsgrenze des regulären Asylsystems.

Nur kein Notfall

Die zuständigen Behörden wollten das Notfallkonzept im Asylwesen vorderhand nicht anwenden. Der Bundesrat, die Justizdirektorenkonferenz und die Sozialdirektorenkonferenz sind der Meinung, dass so lange wie möglich in den regulären Strukturen gearbeitet werden soll. Eine andere Position vertrat beispielsweise der Berner Justizdirektor Hans-Jürg Käser, der auch vor dem Hintergrund renitenter Gemeinden in seinem Kanton die Einsetzung eines Sonderstabs forderte.

Die Herausforderungen im Flüchtlingswesen haben nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zugenommen. Bis zu 400 unbegleitete minderjährige Asylsuchende (Uma) treffen zurzeit pro Monat ein, ihre Unterbringung und Betreuung ist weit anspruchsvoller als jene der Erwachsenen. Eine Gruppe von Uma erarbeite im Frühjahr eine Charta mit Mindeststandards, die bei der Betreuung der Kinder und Jugendlichen eingehalten werden sollte. Problematisch ist insbesondere die Unterbringung in Unterkünften, wo überwiegend alleinstehende Erwachsene leben.

Zunehmende Belastung

Das Bildungswesen und das Gesundheitssystem wird durch die Zunahme von Flüchtlingen gefordert. Die Kantone kritisierten, der Bund würde ihnen heute schon Asylbewerber ohne gründlichen Gesundheits-Check zuteilen. In der Sozialhilfestatistik spiegelt sich derweil die mangelhafte Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge: 84 Prozent aller Personen, die sich in einem Asylverfahren befinden, beziehen Sozialhilfe. Bei den vorläufig Aufgenommenen, die bis zu sieben Jahre hier leben, sind es noch 77 Prozent. Die Kantone fordern eine Reform der Integrationsbeiträge des Bundes.

Die eidgenössischen Räte brachten 2015 die Vorlage zur Neustrukturierung des Asylwesens unter Dach und Fach. Die SVP ergriff aber unmittelbar nach der Herbstsession das Referendum. Die Partei beantragte auch mehrmals einen Asyl-Stopp und Wiedereinführung systematischer Grenzkontrollen, erhielt aber aus keinem Lager Unterstützung.

Mit der Neustrukturierung sollen die Asylverfahren deutlich verkürzt werden. Gestrafft werden insbesondere die Abläufe bei Gesuchen aus Ländern mit einer hohen Ablehnungsquote. Unter anderem im Fall der Gesuchsteller aus dem Westbalkan werden die Verfahren heute schon stark beschleunigt.

Nicht alle Bundeszentren gefunden

Noch nicht abgeschlossen ist die Suche nach den neuen Bundeszentren. Geklärt hat sich die Situation in Zürich und in der Ostschweiz. In den anderen drei Asylregionen fehlen noch mehrere Standorte. Insgesamt sollen die Bundeszentren etwa 5000 Personen aufnehmen können. Ein grosser Teil davon würde gar nie den Kantonen zugeteilt, sondern müsste bei einem negativen Entscheid direkt das Land verlassen. In Zürich läuft ein Testbetrieb, die Ergebnisse werden laufend evaluiert.

Auf europäischer Ebene setzte sich Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga an den regelmässigen Justizministertreffen für eine koordinierte Flüchtlingspolitik mit einem Verteilschlüssel ein. Die konkrete Beteiligung an der angekündigten Umsiedlung von 160'000 Flüchtlingen ist noch nicht definiert.

Widerstand aus Gemeinden und Kantonen

Während die Asylpolitik des Bundesrats im Parlament meist von einer Zweidrittelmehrheit unterstützt wird, leisten Gemeinden und Kantone manchmal erbitterten Widerstand. Die Kantonsregierungen in Luzern und Schwyz schrieben (und veröffentlichten) Briefe an den Bundesrat, in denen sie höhere Entschädigungen, eine verschärfte Asylpraxis oder eine Neubeurteilung des Problemlandes Eritrea forderten.

SVP-Präsident Toni Brunner forderte in einer umstrittenen Rede vor den Parteidelegierten dazu auf, neue Asylunterkünfte mit zivilem Ungehorsam zu bekämpfen. Verschiedene Parteiexponenten distanzierten sich allerdings von diesem Vorgehen.

Porträtserie «Fluchtwege»

Anfang 2015 publizierte die NZZ eine Serie mit Porträts von Personen, die entweder selbst die Flucht angetreten haben oder sonst im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise tätig sind. Sie ist über diesen Link oder über untenstehende Grafik zugänglich.